Seid solidarisch. Seid sichtbar. Seid fabelhaft!

Offener Brief von DIE LINKE.queer an die Community zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und Transfeindlichkeit am 17.05.2020

Viele von uns sind müde und können es fast nicht mehr hören:
Die Corona-Pandemie hält das öffentliche Leben weltweit in Schach und diese Pandemie wird uns noch eine lange Weile begleiten. Viele von uns sorgen sich um ihre Lieben oder fürchten um ihre finanzielle Existenz. Dabei kam schon vor Corona jede dritte Queer-Person in Europa finanziell nur mit Mühe über die Runden. Bei intersexuellen und Transgender-Personen, für die die Situation noch prekärer ist, sogar jede zweite. So eines der erschreckenden Ergebnisse einer Umfrage bei über 140.000 europäischen Queers, die gerade von der EU-Grundrechteagentur veröffentlicht wurde.
Die queere Community und ihre aktuellen Nöte gehen an der Bundesregierung geräuschlos vorbei. Kein Wort der Bundeskanzlerin oder des schwulen Bundesgesundheitsministers in unsere Richtung, die oberste Kulturpolitikerin der Republik, Monika Grütters, arbeitet an den Problemen vorbei und begnügt sich damit Brotkrumen zu verteilen, während die Verteidigungsministerin Unsummen in Kriegsgerät versenkt.
Wenn die Bundesregierung Begriffe wie „Solidarität“ oder „Systemrelevanz“ im Munde führt, dann wird klar: Queere Strukturen sind damit offensichtlich nicht gemeint.
Als DIE LINKE.queer haben wir in den letzten beiden Monaten sehr konkrete Vorschläge unterbreitet: zur Rettung queerer Infrastruktur, zu Hilfen für Sexarbeiter*innen oder zur Verantwortung von Konzernen und Parteien, die sich sonst gerne mit ihrer CSD-Teilnahme oder ihrem „Diversity-Management“ brüsten. Wir haben kritisiert, wie die Regelungen bei Hartz IV junge Queers diskriminieren und unter Druck setzen und wie dieser Umstand durch die Corona-Pandemie verschärft wird. Wir freuen uns, dass Teile der Grünen und die SPD queer sich in dieser Woche zumindest einen Teil unserer Forderungen zu Eigen gemacht haben.
„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft in der er lebt“, meinte Rosa von Praunheim und das bestätigt sich gerade erneut und erschreckend: allein die beiden BMW-Großaktionäre Stefan Quandt und Susanne Klatten erhalten gerade 769 Millionen Euro Dividende für ein Jahr ausgezahlt, während viele queere Projekte laufende Rechnungen nicht mehr bezahlen oder Eigenmittel nicht mehr aufbringen können. Ohne eine grundlegende Umverteilung des vorhandenen Vermögens wird am Ende der Corona-Krise die soziale Ungleichheit noch größer sein als bisher.
Viele unserer BAG-Mitglieder organisieren während der Krise praktische Solidarität. Sie sammeln und spenden Geld, um queere Infrastruktur zu erhalten, die für uns alle so wichtig ist. Rund 10.000 Euro aus unterschiedlichen Gliederungen der LINKEN und aus ihren Fraktionen haben wir zudem bislang organisieren können, um die queere Medienlandschaft zu unterstützen. Und da geht noch mehr. Zudem haben wir sichergestellt, dass Referent*innen, Künstler*innen und Veranstaltungsorte, für nun ausfallende queere Veranstaltungen der LINKEN Ausfallhonorare erhalten, auch, wenn dies vertraglich nicht vorgesehen war. Dort, wo DIE LINKE. regiert, wie im Land Berlin, wird schnelle Hilfe für Kulturschaffende und die Club-Szene organisiert.
DIE LINKE übt Druck auf die Bundesregierung aus, sich endlich der Situation der Community anzunehmen. Das betrifft nicht nur die Forderung nach finanziellen Hilfen für die queere Community in der Corona-Krise. Das Festhalten am diskriminierenden und entwürdigendem Transsexuellengesetz, die Untätigkeit gegen zunehmende homo- und transfeindliche Gewalt und die Ignoranz gegenüber der strukturellen Diskriminierung sind unerträgliche Beispiele für die Ignoranz der Regierung aus CDU/CSU und SPD. Angst, Gewalt und Diskriminierung sind nach wie vor weit verbreitet. Dieses Ergebnis der jüngt veröffentlichten, 2019 durchgeführten Befragung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) von queeren Menschen in Europa zeigt die Lebensrealität gut auf. Jede fünfte befragte Person fühlt sich am Arbeitsplatz und mehr als jede dritte bei Freizeitaktivitäten in der Öffentlichkeit diskriminiert. Eine von fünf Transgender- bzw. intersexuellen Personen hat körperliche oder sexuelle Übergriffe erfahren – das sind doppelt so viele wie in anderen LGBTI-Gruppen. Die Ergebnisse entscheiden sich dabei nach den einzelnen Ländern – und sind doch für keins zufriedenstellend.
Einen besonderen Blick müssen wir in Europa auf Orbans Donaudiktatur und auf Polens PIS-Partei werfen. Die in Polen propagierten „LGBT“-freien Zonen und die Aberkennung der geschlechtlichen Identität von Transpersonen in Ungarn sind schwerste Menschenrechtsverletzungen. Mit konkreten Partnerschaften zwischen Community-Strukturen und -Personen müssen wir diejenigen, die in ihren Ländern für Emanzipation kämpfen, unterstützen. Die gilt auch über Europa hinaus. Autokraten wie Erdogan in der Türkei und Faschisten wie Bolsonaro in Brasilien missbrauchen die Pandemie, um Hass auf alles zu schüren, was nicht dem sexuellen und geschlechtlichen Mainstream entspricht. Die aktuelle Verfolgungswelle in Marokko und Südkorea muss ebenso zu lauten Protesten führen, die diese Machenschaften beenden. Doch scheint sich die Bundesregierung nicht dafür zu interessieren. Von Außenminister Heiko Maas ist während der Krise bisher jedenfalls nicht einmal ein diplomatischer Fingerzeig in dieser Angelegenheit zu vernehmen gewesen.
Die internationale Solidarität ist für uns ein zentrales Anliegen des IDAHOBIT. Aufmerksamkeit erzeugen, solidarisch sein – und sichtbar. Das dient nicht nur jedem von uns selbst für sich selbst, es ist auch eine bittere politische Notwendigkeit.

Daniel Bache, Katharina Jahn, Frank Laubenburg
Bundessprecher*innen von DIE LINKE.queer
Berlin, 16.05.2020